“JOHN GABRIEL BORKMAN”, Simon Stone, Burgtheater Wien – Akademietheater, eine Produktion der Wiener Festwochen 2015.
23.11.2015
Von Clara Gallistl

 

  • Arg ausverkauft, viel künstlerisches Burgtheater-Personal im Publikum. Das will was heißen.
  • Der neonblaue Vorhang geht auf und es schneit. Schön, Stille.
  • Ich glaub, man muss Theater wirklich phantasieren und erst in einem zweiten Schritt an die Bühne denken. Ich würde gern wissen, wie Simon Stone an sowas herangeht. Bevor er zur Leseprobe geht oder das erste Treffen mit der Ausstattung hat. Phantasiert er sich Räume frei? Oder Farben? Gefühle? Gerüche?
  • Birgit Minichmayr redet so schnell. Das ist so geil.
  • Die Textfassung ist SUPER !!! Konzise, eng, prägnant und dabei locker, leicht, jetzt-zeitig. Ned deppad. Bei so Texten wie denen von Ibsen muss man wirklich nicht texttreu bleiben. Das kann man ruhig neu schreiben. Stifter neu schreiben wär spannend, denk ich mir. Vielleicht mach ich das mal.
  • Alles, was am Boden liegt, verschwindet im Schnee. Die Bühne bewegt sich scheinbar vertikal nach unten – durch den Schnee. Es schneit unaufhörlich.

  • 15 Jahre nach “Borkmann Pleite, Borkmann Betrug, Borkmann Gefängnis” nimmt sich in der Familie Borkmann/Rentheim niemand mehr ein Blatt vor den Mund. Mit erstklassigen Schauspieler_innen wie Birgit Minichmayr, Martin Wuttke und Caroline Peters macht das unglaublich viel Spaß.
  • Gunhild Borkmanns (Minichmayr) Leben ist grundsätzlich durch die sozialen Dynamiken des Internets bestimmt: Sie geht nicht mehr aus dem Haus, bestellt alles im Netz, bekommen alles geliefert, spielt mit Menschen der Außenwelt das Online-Spiel Call of Duty und ist eifersüchtig, dass ihr Sohn mit ihrer Zwillingsschwester Ella, aber nicht mit ihr selbst auf Facebook befreundet ist.
  • Minichmayr ist großartig. Sie hat keine Angst vor Versprechern, spielt einfach drauflos. Sie ist so präsent. Ihr könnte ich ewig zusehen. Sie spielt auch so lustig. Ich will mit ihr befreundet sein.
  • Peters kann ich immer zusehen. Sie ist wie Minichmayr immer in ihrer Rolle und spielt, auch wenn sie gerade keinen Text hat und der Fokus auf einer Dynamik liegt, an der sie keinen direkten Anteil hat.

Kleine Mimiken, Mikro-Bewegungen kommentieren das Geschehen aus der Perspektive der von ihr verkörperten Figur, ohne jemals unauthentisch oder aufdringlich zu sein.

  • Nichts an ihrem Spiel ist gezwungen. Alles geschieht aus dem Text, der Situation, der Figur heraus.
  • Daneben steht Nicola Kirsch herum wie bestellt und nicht abgeholt. Das mag zur Rolle der (eben etwas außenstehenden) Freundin des Sohnes passen, aber dass sie so unvermittelt in der Gegend herumsteht, verstehe ich nicht. Das passt gar nicht zum Spiel des restlichen Ensembles. Außer ihr spielt niemand so. Was macht sie mit ihren Händen? Als ob sie Angst hätte, sich dreckig zu machen? Neben ihr spielen Minichmayr, Wuttke und Peters, als ob es außerhalb der Bühnenwelt gar nichts gäbe. Kirschs Arme hängen angespannt neben ihrem Körper, wie bei jemandem, dem man gesagt hat, es gehöre sich nicht, die Hände immer in den Hosentaschen zu haben.

Nicola Kirsch scheint zu kontrolliert für die personale Erzählweise des Stückes und des Regisseurs.

  • Starkes Bild: Liliane Amuat mit wummernder E-Gitarre im roten Kleid hebt sich langsam aus dem Schnee. Sie ist die Geliebte des alten Borkmann. Aber sie wirkt selbstbestimmt und selbstsicher. Eine gute Frauenfigur ist das. Trotz ihres megakurzen Kleides und ihrer sexy Anlage.
  • Borkmann schaut aus wie ein grausliger Helge Schneider.
  • Lilliane spricht leiser als Wuttke. Warum? Weil er der große Plauderer, der mit den GROSSEN IDEEN ist? Wahrscheinlich.

Sag jetzt nicht, das ist Zufall. Nichts, was auf einer Bühne stattfindet, sollte Zufall sein. Kunst ist vor allem Entscheidung. Wenn ich Theater erst nehme, nehme ich an, dass es auf der Bühne keine Bedeutungslosigkeit gibt. Außer, die Bedeutung ist Bedeutungslosigkeit.

  • Warum spricht Frida Foldal (Liliane Amuat) leiser als John Gabriel Borkmann (Martin Wuttke)? Ich hätte die Emanzipations-Erzählung bevorzugt und Frida nicht nur in der figuralen Anlage auf Augenhöhe mit John inszeniert, sondern auch in der Lautstärke der Stimme.
    Warum ist Frida so wenig bekleidet? Ich seh ihre weiße Unterhose, während sie im Schnee am Boden im Gespräch mit John Borkmann herumturnt. Die Farbmethapher ist schön. Klassisch und schön. Mit dem Schnee und dem grindigen Borkmann daneben.
  • Liliane spielt natürlich und frei. Schön! Nicht krampfig wie Christoph Radakovits neben dem (zugegeben einschüchternden) Ignaz Kirchner.

Amuat spielt nicht aufgetragen sexy, sondern selbstbewusst.

  • So wirkt ihr kurzes Kleid und das Herzeigen ihrer Unterhose nicht ausbeuterisch, sondern selbstbestimmt und das ist gut. Ich sehe in diesem Fall keine Schauspielerin, die sexy inszeniert worden ist, um das Publikum aufzugeilen (Instrumentalisierung), sondern eine attraktive Frau, die offen und lustvoll mit ihrer Sexualität umgeht. Das ist ein feiner Unterschied, aber ein wichtiger.
  • Amuat legt sich (anstelle eines Abganges) auf den Boden und lässt sich beschneien, bis sie nicht mehr sichtbar ist. Witziger Inszenierungs-Clue, denk ich mir. Aber wie tut sie da, dass ihr kein Schnee in den Mund und in die Nase fällt? Husten die Schauspieler_innen manchmal und verkutzen sich, weil sie beim heftigen Spiel diesen Kunstschnee in den Mund bekommen? Das Husten und Verkutzen passt super – so oder so.
  • Wuttke ist so gut, wenn er sich Raum nimmt und ohne Text spielt. Sein Gesicht ist ein Aufmerksamkeitsmagnet.
  • Es ist schön, wie Wuttke beständig in Bewegung ist. “Mein ganzer Körper zittert vor Erwartung”, sagt er in der Hoffnung, bald wieder gebraucht zu werden.
  • Zwei graue Männer, ein flimmernder Fernseher und Schnee.
  • Oh, shit. Eine Schusswaffe. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren aus Angst vor dem Knall. Jedes Mal, wenn Borkmanns Wut steigt, habe ich Angst, dass die Waffe losgeht. Das Stilmittel funktioniert also. Aber ich weiß nicht, ob mir das Spaß macht. Wenn ich wüsste, dass es nicht superlaut wird, könnte ich entspannter zusehen.

Mich interessiert diese Männer-Dynamik zwischen Wilhelm und Borkmann.

  • Es gibt ein als ideal angesehenes Männerbild, eine hegemoniale Männlichkeit. Der Mann, der einen GROSSEN PLAN hat, den er niemandem mitteilt und ganz allein in die Tat umsetzt und dann von allen bewundert wird.
  • Wilhelm: Christoph Grissemann als guter Schauspieler. Roland Koch spielt Wilhelm und ist ein perfekter Mitspieler für Wuttke.
  • “Du hast mich glauben lassen, dass ich Grund zur Hoffnung habe”, wirft Borkmann seinem letzten und einzigen Freund, dem gutherzigen Wilhelm vor, und es bricht mir das Herz. Leider lässt die Inszenierung diesem Satz nicht die Zeit zu atmen. Wuttke steht auf dem Fernseher und wirft den Satz auf den Sonnenbrillen tragenden Wilhelm hinunter. Das ist ein schöner Moment, ein schönes Bild. Ein, zwei Sekunden Wirkungsraum hätte der Satz vertragen.
  • Alle Frauen tragen Schuhe mit hohen Absätzen. Gibt es darüber keine Literatur in der feministischen Theaterwissenschaft? Mich würde so interessieren, ob das mehr mit der grundsätzlichen Einstellung von Kostümbildner_innen, Regisseur_innen oder Schauspielerinnen zu tun hat. Kann da jemand einmal qualitative Interviews mit Theatermacher_innen machen?
  • Schöne Metapher: Borkmann hat das Geld von allen Menschen in seinem Einflussbereich verspekuliert, aber das Geld von Ella hat er nicht genommen, weil ihm das Risiko zu groß war. So beginnt das Gespräch der beiden über ihre Zuneigung zueinander.
  • Caroline Peters redet sich gerade so in Rage. Das ist so geil!!!
  • Borkmann hat ihr gerade erzählt, dass er sie für einen Job verlassen hat.

So – hallo Kostümdepartment -, jetzt habe ich von allen Darstellerinnen die Unterhose gesehen außer von Nicola Kirsch.

  • Über Amuat haben wir schon gesprochen. Und Minichmayr und Peters haben see-through Kleider an und drunter dunkle Unterwäsche. Warum? Das ist das oben besprochene Aufgeilen des Publikums ohne künstlerische Notwendigkeit. Sowas ärgert mich. Meine Aufmerksamkeit geht weg vom Schauspiel und hin zu den beiden Körpern. Schöne Frauen sind das, denk ich mir plötzlich. Und der Arsch von Minichmayr ist echt alles, was man sich wünscht. Darf ich das schreiben? Darf ich das denken? Ich weiß es nicht. Aber gerne denk ich mir das nicht und gerne schreibe ich das auch nicht.

Mit dieser Kostümentscheidung ist meine Aufmerksamkeit weggelenkt von der schauspielerischen Größe. Schade.

  • John Gabriel Borkmann: Ein egomanischer Mann hat eine Idee gehabt und damit zwei Frauen verunmöglicht, ihr Leben selbstbestimmt zu leben. Das ist meine Leseweise des Stücks.
    “Warum hast du mir das nicht gesagt?” – “Du hättest mir nicht zugestimmt”, wiederholt sich und ist einer der Momente, an denen der neue Text seine simple Intelligenz zeigt.
  • “Den einen GROSSEN WURF” sehnt Borkmann herbei und ich muss an Carsten Maschmeyer denken, der die Finanzvertriebsfirma AWD gegründet, aber, kurz bevor sie wegen sehr unsauberer (und menschlich widerwärtiger) Akquisemethoden von Konsument_innen-Schützer_innen angezeigt worden ist, verlassen hat und die Dreistigkeit besessen hat, während des Aufkommens des AWD-Skandals ein Buch herauszubringen, das “ErfolgReich werden” heißt. Ekelhaft und für viele der großen Übel der Welt verantwortlich: Männer wie er.

Lässt Wuttke diesen Maschmeyer/Borkmann zu sympathisch wirken?

  • Ich finde alle Figuren so sympathisch, weil die Inszenierung dieser Textfassung so tolles Theater ist und weil die Schauspieler_innen so grandios spielen.
  • 15 Jahre nach der Katastrophe nehmen sich die Frauen ihre Stimme zurück. Reclaiming power: I like!
  • Minichmayr und Wuttke sind SO GEIL MITEINANDER!!! Die Spinnaden. Die Stampfenden. Die Wort- und Spielgewaltigen. Und keinen Meter dahinter Roland Koch und Caroline Peters. Das macht alles so viel Spaß! Ich liebe liebe liebe Theater!
  • Die Perspektive der Erzählung ist so toll: Weil alles schon gelaufen ist, können alle offen reden. Und sie reden schnell. Jedes Gespräch ein Kampf.
  • Vor allem Minichmayr und Wuttke sind so organisch miteinander. Es fällt mir schwer zu denken, dass sie nicht die Figuren sind, die sie spielen. Es wirkt, als ob sie immer so miteinander reden würden und wirklich seit 20 Jahren verheiratet sind mit allen Dynamiken, die sich in so eine Beziehungsbiographie einarbeiten.
  • “Weißt du, dein Fehler war einfach, deine Mittelmäßigkeit nicht zu akzeptieren. Jeder kleine Wixer hat Ideen”, wirft Minichmayr Wuttke um die Ohren. Das sitzt.
  • Ich muss mir das mit meinen Eltern anschauen. Wie die zwei es sich geben, das taugt meiner Familie.
  • Sie (Frau Borkmann) hat für ihn (Herrn Borkmann) eine Parzelle am Friedhof gemietet, jederzeit einsatzfähig, umrandet von dornigen Büschen, völlig unzugänglich. Das sagt sie ihm grad. Er sieht sie nur an.
  • Ich wünsche mir zu Weihnachten ein Akademietheater-Abo. Galerie, erste Reihe. Hier werde ich immer glücklich sein.
    Der Sohn ist auch toll. Empathisch und agressiv. Ein Opfer der mütterlich-emotionalen Erpressung („Komm heim, sonst bring ich mich um!“).
  • Das ist alles so hart. So gut. Ich liebe Theater.
    Ich will, dass das Stück nicht mehr aufhört. Ich will in dem Stück leben.
  • Die Kirsch steht wieder so daneben. Sie ist niemand. Da sehe ich keinen Charakter in ihrem Spiel. Sie ist die Kofferträgerin: eine Funktion. Man hat ihr nichts zum Spielen gegeben, aber sie wäre erfahren genug, um sich etwas zum Spielen zu nehmen. Sie irritiert mich. Ich versteh das nicht. Was macht sie da? Es sieht aus, als ob Nicola Kirsch nicht zum Team gehören würde. Während ich den Satz niederschreibe, tut sie mir leid, da unten auf der Akademietheater-Bühne.
  • Borkmann, der niemanden in seine Pläne eingeweiht hat, zwingt seinen Sohn zu sagen, was er will.

Ich sehe eine Familienaufstellung mit einigen der besten deutschsprachigen Schauspieler_innen der Gegenwart.

  • Zum Schluss stehen die drei (Minichmayr, Wuttke, Peters) vor dem neonblauen Vorhang ganz nah an der Rampe. Ganz nah am Publikum.

Diese Aura nimmt mir fast den Atem.

  • Meine Aufmerksamkeit ist auf 1.000. Gespannt wie bei den entscheidenden Runden des entscheidenden Formel 1-Rennens. Die Nähe schüchtert ein. Wie die physische Nähe des Mannes, in den ich verliebt bin. Es ist frisch. Es ist unsicher. Die Zuneigung. Die Nähe. Präsenz und Aura. Hui!
  • Wieso kann ich diesen Abend nicht kaufen und in meinem Zimmer an die Wand hängen? Wieso kann ich keine Tür in meiner Wohnung haben, durch die ich in diesen Moment hinein kann?
  • Man denkt, es ist schon aus, und da kommt Wilhelm noch dazu. Wilhelm, auf der Suche nach seiner Tochter von der Limousine angefahren, in der seine Tochter ihn verlässt. Roland Koch spielt leicht und man glaubt es ihm, dass Wilhelm gar nicht versteht, was ihm gerade passiert ist und als er beginnt, es zu verstehen, stehen mir Tränen in den Augen. “Ich hab sie verpasst”, sagt er. Roland Koch ist kein besonders aufregender Schauspieler, aber seine Professionalität ist evident in allem, was ich bisher von ihm gesehen habe. Und dieser Moment ist ein großer. Es braucht Schauspieler_innen wie Koch, um Regisseur_innen wie Simon Stone glänzen zu lassen.
  • Das ist eine unglaubliche Körperbeherrschung, wenn man bei gerade Gestorbenen, die so nah am Publikum sind, nicht eine Bewegung des Brustkorbes sieht.
  • Am Ende werden die Schauspieler_innen fünf-, sechsmal wieder herausgeholt zum Applaus.
  • Ganz am Ende applaudieren die Schauspieler_innen lachend dem Publikum. Was für ein schöner Abend.

Dieser Text stellt nicht mehr und nicht weniger als die Transkription meiner Gedanken während der Vorstellung dar. Vermutungen über den Fortgang der Inszenierung wurden nur aufgenommen, wenn sie sich bis Stückende nicht als Unrichtig bewiesen haben. Ich möchte mich im Vorhinein für jede Fehleinschätzung aufgrund von Unverständnis entschuldigen und bitte in diesem Fall um artikulierten (respektvoll und wertschätzend formulierten) Widerspruch.

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