Stolz und Zufriedenheit vermute ich da schon in den Blicken mancher Schüler_innen, als ich sie nach den Vorstellungen ihrer Inszenierungen im Detail kritisiere. Während die Verbesserungsvorschläge meist mit einem zustimmenden Nicken angenommen werden, zaubern sich bei trockenem Lob vereinzelte Grinser auf die Gesichter der Schüler_innen. Das freut mich natürlich. Das war mein Ziel: die emotionale, sprachliche und soziale Entwicklung von Heranwachsenden fördern, durch Selbsterfahrung und professionelle, konstruktive Kritik.
Der Theaterworkshop fand an zwei aufeinander folgenden Mittwochen statt und dauerte jeweils eine Doppelstunde, was in Maria Enzersdorf zweimal 100 Minuten sind. Da der Workshopinhalt mit einer Deutschlehrerin und einem Geschichtelehrer entwickelt wurde, sollte das Thema des Stückes in beide Fachbereiche passen. Angesichts der aktuellen Krisenstimmung bezüglich des Flüchtlingsthemas war mir wichtig, zum ersten Ziel der emotionalen, sprachlichen und sozialen Entwicklungsförderung auch politisches Denken, Empathie mit ‘Fremden’ und den kritischen Umgang mit traditionellen und neuen Medien zu üben.
Vorbereitend schrieb ich ein Mikrodrama, das für circa fünf Minuten Text bot. Ich entwickelte eine Geschichte, die von drei handelnden Figuren erlebt beziehungsweise erzählt wird. Die drei Figuren waren nicht mit Namen, der Text nicht mit einem Titel ausgestattet, sodass die Schüler_innen so frei wie möglich mit dem Text umgehen konnten. In der Stückrealität treffen sich drei Figuren an einem nicht angegebenen Ort. Eine Figur berichtet, dass in der Nähe eines Flüchtlingsheimes eine Leiche aufgefunden worden sei und es sich wahrscheinlich um einen alten Mann handle. Es kommt zum Meinungsaustausch über mögliche Gewaltbereitschaft von Flüchtlingen im Allgemeinen. Als Quellen werden verschiedene Medien zitiert und qualifiziert. Meinungen wie mediale Quellen werden kritisch infrage gestellt. Am Ende klärt sich der Todesfall: Bei der verstorbenen Person handelt es sich um Ruba, einer Frau, die einer der drei handelnden Figuren vom gemeinsamen Deutschkurs bekannt ist.
Während der ersten Doppeleinheit wurden die Schüler_innen in Vierer-Gruppen eingeteilt. Im Vorfeld erklärte ich, dass es ein Mikrodrama gäbe, das von allen Gruppen gespielt werden würde. Ich erklärte die unterschiedlichen Aufgaben von Regie und Schauspiel und betonte dabei das gegenseitige Vertrauensverhältnis. Nachdem sich sechs Regisseur_innen gefunden hatten, wurden die Gruppen ein- und den Regisseur_innen zugeteilt. Jede Gruppe erhielt einen Stoß Blätter, auf denen der Sprechtext gedruckt war. Die Blätter waren nummeriert, um die Reihenfolge festzuhalten. Die Gruppen zogen sich zurück und begannen, den Text zu lesen, ihn zu reflektieren, die Rollen zu besetzen und sich über die Inszenierung Gedanken zu machen.
In den an anderen Tagen folgenden Deutsch Einheiten erhielten die Schüler_innen die Möglichkeit, sich weiter mit ihrer Inszenierung zu beschäftigen. Als ich eine Woche später wieder den 6:20 Zug nach Maria Enzersdorf nahm und aus dem grauen Dezembernebel aus dem Bus Richtung Kloster ausstieg, hatte meine Vorfreude auf die verschiedenen Inszenierungen die Müdigkeit, die sich eigentlich hätte einstellen müssen, gar nicht erst aufkommen lassen. Auch andere Lehrer der Schule waren zu den Vorstellungen anwesend. Die Schüler_innen aufgeregt, die beiden Betreuungslehrer_innen freudig gespannt, und ich dazwischen bereit mit Notizblock und Stift in Vorfreude und leichter Spannung.
Der_die Regisseur_in der Gruppe richtete jeweils die Szene ein. Da wurden USB-Sticks an den Laptop angedockt, YouTube Videos aufgerufen, der Beamer eingestellt, Sessel und Tische verrückt, Requisiten auf dem Tisch verteilt, Kostüme und Perücken angezogen und zurecht gerupft und der Vorhang vor dem Fenster in Position gebracht, um die richtige Lichtstimmung zu erzeugen. Dann: der Moment. Die regieführende Person begrüßt das Publikum, nennt den Stücktitel und zieht sich zurück. Das Stück beginnt.
Von jedem Stück habe ich mir den Stücktitel und die Namen der Mitwirkenden notiert. Zu jedem Schauspieler und jeder Schauspielerin, zu jeder Bühnen-/Kostüm- und Lichtgestaltung habe ich mir Notizen gemacht. Am Ende war ich erstaunt: Alle Inszenierungen waren wirklich gut! Die Gruppen hatten den Text teilweise völlig unterschiedlich ausgelegt und die Handlung an sehr unterschiedlichen Orten spielen lassen. Manche Regisseur_innen hatten deutlicher aus einer Hand inszeniert als andere, die Inszenierungsentscheidungen mehr der Gruppe überließen.
Während des Probenprozesses, so schien mir, hatten Schüler_innen mit stärkerem Selbstbewusstsein ihren unsichereren Kolleg_innen geholfen. Während der Vorstellung waren fast keine Unterschiede in Konzentration, Ausdrucksstärke und Selbstbewusstsein spürbar. Dass der Text jeweils derselbe war, habe ich am Ansehen der Stücke fast vergessen.
Für mich war die Entwicklung und Leitung des Theaterworkshops eine besondere und sehr schöne Erfahrung. Das Feedback der Lehrenden war toll. Sie waren sichtlich mit Freude, spürbarem Engagement und großem Interesse an der individuellen Entwicklung ihrer Schüler_innen dabei. Das Feedback der Schüler_innen unterbrach meine Schlussworte in der Klasse. Ein Applaus, dessen Länge mir fast unangenehm war, und mich sehr gefreut hat. In der anschließenden online-Reflexion gaben manche an, der Workshop haben ihnen Spaß gemacht, weil er Abwechslung zum normalen Deutschunterricht bot. Die Mehrheit beurteilte den Workshop als “extrem gut”, “sehr lustig” und “tolle, neue Erfahrung”. Besonders gefiel den Schüler_innen, die Möglichkeit, den Text frei umzugestalten, die Aktualität des Themas und die Vorstellung des eigenen Theaterstücks.
Einer Rückmeldung kann ich nur zustimmen: “Ich würde so etwas gerne wieder machen.”