doyçlender: almanci von Aslı Kişlal (Text: Emre Akal)
Werk X (Koproduktion mit diverCITYLAB und daskunst)
18. Jänner 2016.

Von Clara Gallistl


Gmiatlich: Während wir (das Publikum) den Raum betreten, sind Alev Irmak und Daniel Keberle bereits auf der Bühne. Sie begrüßen Teile des Publikums namentlich, das wirkt sehr heimelig. Ich fühl mich direkt wohl.
Eine körnige, graublaue Projektion an der hinteren Wand. Vorne rechts ein alter Röhrenfernseher, der ein Video abspielt: aus den 70ern? Eine blonde Frau. Ein Konzert? Tonlos. Ich erinnere mich an Can Sungus Videoinstallation “Replaying Home” (2013), die letztes Jahr beim paraflows festival zum Thema ‚Digital Migration‘ ausgestellt wurde.
Jetzt starrt mich Tim Breyvogel aus einem überbelichteten Video an.

Neben ihm steht ein lila Blumenstock. Er trägt Vollbart und ein weißes T-Shirt.

Er erzählt vom Versuch, im Exil zu schreiben.

Neben seinem Bild steht eine Leiter auf der Bühne. Schreiben im Exil habe ich bisher mit österreichischen Autoren_innen, die vor dem Dritten Reich geflohen sind, verbunden. Ich bin gespannt, was der Abend bringt. Tim spricht mit so einer Intensität, seine hellen Augen wirken fast gruselig. Ich verstehe nicht alles, was er sagt. Ich weiß nicht ganz, worum es geht, aber ich will ihm zuhören. Ich will ihn verstehen. Die Ästhetik des Videos ist sehr gut gewählt und funktioniert für mich völlig. Ich hätte das Video gern zuhause, als weißes Bild mit lila Blumentopf und braunem Bart.
“Nur ganz kurz glücklich sein” will die Figur im Video und wollen die beiden Menschen vor mir auf der Bühne. Der Wunsch, so ausgesprochen, rührt mich sehr. Schlimm wird der Eindruck dieses Bildes durch das fixierte Lächeln in den Gesichtern Alev Irmaks und Daniel Keberles. Meine Spiegelneuronen springen an. Ich muss mich bemühen, nicht entgegen meiner Empfindung von Trauer mitzulächeln.
Im Hintergrund läuft der Sprechtext auf Türkisch mit, denke ich. (Er hat ähnliche Längen wie der gesprochene deutsche Text und zwei Rollen wechseln sich auch im Schriftbild ab.)
Ich sehe ein postdramatisch überzeichnetes Beziehungsgespräch zwischen einer Frau, die als Kind aus der Türkei nach Österreich gekommen ist, und ihrem Freund/Mann, der in Österreich geboren und offensichtlich monokulturell erzogen wurde. Irgendwie möchte sie zurück in die Türkei, aber irgendwie vielleicht nicht mit ihm, aber vielleicht will sie auch hier (in Wien) bleiben. Es ist kompliziert.
“SEVGI” steht im Hintergrund an der Wand.
Alev Irmak spricht jetzt durch das Mikro. Ich verstehe nicht, welche dramaturgische Funktion dahinter steht. Die Boxen klingen unsauber. Ich kann mich schlecht auf den Text konzentrieren, weil das Mikro etwas hallt. Ich könnte sie gut hören, wenn sie unverstärkt auf der Bühne spräche.

Bitte leg das Mikrofon weg, will ich zu ihr sagen. Das lenkt mich ab.

Oh, ein Bild jetzt: Er (der Österreicher) versucht ihr (der neuen Österreicherin) seine Kultur in Form eines Schnitzels zu füttern. Das Schnitzel ist heiß und noch in der Pfanne. Er zwingt ihr Gesicht in die heiße Pfanne hinein. Sie wehrt sich nur kurz. Dann grunzt sie, das Schnitzel ohne Hände, ohne Besteck (fr)essend. WHAT? Was war das? Das Bild bleibt in meinem Kopf.
“ONUR” steht im Hintergrund an der Wand.
Stroboskop! Ich bemerke den schwarz/rot/grünen Kabelsalat zwischen den beiden Mikrofonständern. Haben die Farben eine Bedeutung? Wo ist Blau? Wo Pink?

“Wir haben in der Türkei nachgefragt”, erzählt Alev Irmak: was ein Doyclender ist. Recherchetheater, also. Und das ist spannend: Es ist eine Arbeit über den Begriff.

In der Ankündigung musste ich ihn zweimal laut lesen und hab auch so keinen Sinn daraus machen können. Jetzt sehe ich überbelichtet und damit halb transparent schwarz-weiße Bilder von Menschen, die Stimmen zugeordnet werden können. Diese Stimmen erzählen vor städischen Hintergrundgeräuschen, was für sie ein Doyclender ist. Der Eindruck entsteht: ein Mensch, der kulturell zwischen deutsch und türkisch steckt. Manchmal arrogant den Türken_innen in der Türkei gegenüber. Oft radikaler hinsichtlich islamisch geprägter Einstellungen zur Freiheit individueller Handlungsweisen. Immer komisch angezogen. – Halbtransparent über die Bilder der sprechenden gelegt: Alev Imraks Profil als Live-Video. In mir die Versprachlichung des Eindrucks: Diese Menschen sprechen über sie respektive “Leute wie sie”.
Wenn Alev Imrak schnell spricht, wird sie leider manchmal etwas undeutlich. Es tut mir leid, dass ich sie nicht verstehe. Es würde mich sehr interessieren.
Was ich hier auf der Bühne sehe, würde ich als eine Form offenen Theaters bezeichnen: Die zwei Schauspieler_innen kommentieren immer wieder, was jetzt genau in dem Moment auf der Bühne passiert bzw. nicht passiert: “Schalt das Video ein”, sagen sie zum Techniker. Ich finde diese Offenheit sympathisch. Was genau gefällt mir daran?
“Mach mir den Griechen”, fordert Imrak Keberle auf. “Ich kann nur den Italiener”, erwidert dieser und beginnt, den Italiener zu spielen. Das Publikum erkennt die Absurdität und lacht.

Da bricht Imrak den emotional flow und sagt ins Mikro: “Ich bin keine Deutsche. Ich bin Migration.”

Nachdem Keberle von diversen Reisen ins Ausland (Usbekistan und Tansania) erzählt hat, in dem Versuch, sich diese Abenteuergeschichten auf bekannt-absurde Art biografisch einzuverleiben, werde ich das erste Mal mit einem Brief eines jungen Kurden an seine Mutter konfrontiert. Der Brief ist auf deutsch und wird hinten projeziert. Imrak übersetzt simultan auf türkisch, so, als ob die Übersetzung für das Publikum notwendig wäre. Das ist gut: Unvermittelt bemerke ich zu versuchen, mich in eine Türkin, als des Deutschen nicht mächtig, hineinzuversetzen. Im Text geht es um Systembekämpfung, um Tränengas und Wasserwerfer.

Der Brief ist zuende, die Frau auf der Bühne fröhlich (aber eigentlich wütend), der Mann fröhlich (aber eigentlich unsicher und verwirrt). Wie geht man als Paar damit um, wenn eine Person des Paares Migrationshintergrund hat?

Imrak, in diesem Bühnen-Fall, ist wütend, weil sie selbst nicht weiß, was sie will/benötigt und Keberle ihr zu sehr entgegenkommt („Ich hab unsere Wohnung in Wien quasi schon vermietet. Wir können jederzeit nach Istanbul. Ich will deine Kultur ganz genau kennenlernen. Willst du deine Kultur eigentlich kennenlernen?“ [der stille Vorwurf])
Eine neue Folge “Schreiben im Exil” mit Tim Breyvogel. Diesmal erzeugt er, während er spricht, ein Geräusch, das erst zur Mitte des Textes mit dem Inhalt des Textes verknüpft werden kann: Ein Zug rattert da. Das mag ich: Eine Geräusch-Ästhetik stellt eine Frage in meinen Kopf, unbewusst verfolge ich das Geschehen mit einer gewissen Erwartung und dann: der Moment der Lösung. Ein sensibel hin-inszeniertes Aha! Danke, Asli Kislal, das hat sich gut angefühlt!
Wieder ein Brief. Ist der kurdische Widerstand gegen die Regierung eigentlich gewaltfrei? Muss ich mal googlen. Die genaue Situation interessiert mich.
“ZAFER” steht im Hintergrund an der Wand.

Die Öffnung dieses sozialen Raumes (als offenes Theater) hat sicher auch mit der teilweisen Beleuchtung des Publikumsbereiches zu tun und der geringen Auslastung – die mir im Übrigen sehr leid tut. Das Stück ist wirklich wichtig und interssant. Ein sehr schöner Abend, für den ich dankbar bin.

Jetzt verwendet Imrak wieder das schwer verständliche Mikro, dazu spricht sie schnell und das Ganze ist mit Musik hinterlegt. Ich verstehe gar nichts. Kein Wort. Dabei würde ich so gerne wissen, was sie spricht.
Der Plot wird um eine innovative, spannende Wendung reicher: Der österreichische Mann freut sich über die Möglichkeit, durch die migrantische Biografie seiner Partnerin eine für ihn neue Kultur kennenlernen zu können. Euphorisch plant er und mitteilsam. Der Doyclenderin platzt der Kragen: “Du hast hier nur eine Nebenrolle!”, beansprucht sie ihren Platz in der Migrationsgeschichte. Zynisch reißt er das Thema sofort zurück an sich: Auch er habe eine Migrationsgeschichte, schließlich seien seine Großeltern in den 1930er-Jahren … … .
Berührend: Die Geschichte der Mütter im Gezi-Park wird erzählt.

Ich fühle mich schon ganz schlecht, wenn ich mit Keberle lache, während Irmak sich ärgert.

Er spielt so lustig und ich bemerke, dass meine Aufmerksamkeit intuitiv zum Lachenden geht. Sich der stumm Verärgerten zuzuwenden, kostet mich eine kleine Überwindung. Eigentlich möchte ich ihr zuhören, weil sie merklich etwas zu sagen hat. Aber Keberles “Gänseblümchenenergie” (Spieltext Imrak) ist wahnsinnig verführerisch. In mir lehnt sich das Lustprinzip (mitzulachen) gegen das Realitätsprinzip (den Diskurs weiterzuverfolgen) auf.
Wieso sie ständig beleidigt ist, will der österreichische Mann wissen. In anderem Ton, sensibler und ehrlich an der Antwort interessiert, wäre diese Frage das Zentrum des Stückes gewesen. Doch da ist noch kein Schlusspunkt. Da geht es weiter: Imrak spricht plötzlich Vorarlbergerisch. (Ihre gefühlte Heimat: das Ländle). Und die Heimatfrage im Migrationskontext wird um einen Zacken komplexer. (Es ist, als ob ich die wahre Komplexität erst jetzt, indem sich die Dichotomie einer einheitlichen Türkei vs. eines einheitlichen Österreich auflöst, bemerke.) Plötzlich fällt ein mächtiger Satz:

“Unter uns sind wir nicht die Dummen!”

Was für ein Rhytmus, was für eine Ausdrucksstärke. Ich verstumme innerlich. Aber: Wer hat das jetzt gesagt? Welche Figur? Auf welcher Ebene? Der Satz steht schwebend, unpositioniert im Raum.
Tim Breyvogel diskutiert im Video mit der Regisseurin über ein Wort, das er am Text geändert hat. Ich schmunzle. Solche Rollen- und Illusionsbrüche wirken so authentisch. Ich habe das Gefühl, hinter den Illusionsvorhang von Tims Schauspiel zu sehen und damit nicht nur ihn, sondern auch die Regisseurin, die Produktion und den Text quasi nackt/privat zu spüren – für einen kurzen Moment.

Die Migrationsthematik öffnet in der weiblichen Figur für einen Moment etwas theatral Ursprüngliches: eine Position antiker Tragödie.

Vom Schicksal (oder wie du es nennen willst) hineingeworfen in eine migrantische Biografie scheint auf der Frau eine große Verantwortung zu lasten (wofür?). Sie verzweifelt. Er umarmt sie. Sie tanzen still.
Zu kurz scheint mir der Moment, in dem sie tanzen. Im Hintergrund wie als Motto eines paarpsychologischen Trivialtheaters: ER & SIE. “Lieben wir uns oder nur die Idee von uns?”, stellt sie die Selbsttötung der Liebesbeziehung in den Raum, den er wortlos nach hinten verlässt durch eine bisher unmarkiert gewesene Tür in der Wand (Erstbenützung, du theatrales Statement, wofür?).
Imrak erzählt den migrantischen Aspekt ihrer Biografie. Empathie entsteht und wird sofort durch Ansprechen aufgedeckt. Sie erzähle diese Geschichte häufig, um etwas Emotion in diese “Schweinsbratengesichter” zu bekommen. Ich fühle mich mitgemeint unter den Schweinsbratengesichtern und zugleich ungerecht verurteilt. Ich bin hier, aufmerksam und möchte ihre Geschichte von ihr hören oder was auch immer sie zu sagen hat. Der österreichische Mann kommt zurück auf die Bühne und silenced sie. Ich fühle mich schlecht bei dem Gedanken, dass ich seine Wut nachvollziehen kann. Er und ich versuchen, DAS richtig zu machen, und scheitern, ohne zu wissen, woran und warum. Die ganze Tragik ergibt sich aus der Anlage der Protagonistin, die gar keine sein möchte und in Protagonie* (wenn ich mir das Wort so verkürzt von Karl Kraus ausborgen darf) verfällt.
“Denk dir deinen Mund weg!”, sagt er zu ihr. Er will, dass sie ihre Ideen voneinander gemeinsam ausarbeiten. Ich verstehe, warum Asli Kislal diese neutrale Kleidung gewählt hat. Sind das überhaupt psychologische, naturalistische Figuren?

Wie der Boden ihrer Wiener Wohnung knarzen am Ende die Identitäten, die vor mir auf der Bühne stehen.

Den Abschluss bekommt Tim und er bekommt es ab, als deutscher Schauspieler ausgerufen. Die Regisseurin außerhalb des Bildes unterbricht sein Spiel vor der Kamera, wirft ihm Orientalismus vor. Dass sich in der Beschäftigung mit den Kulturen des geografischen Ostens leicht versehentlich Kulturrassismen befinden, weil der eurozentrische Blick so tief in uns „Westlern“ verankert ist, das ist schon kompliziert. Zumal für einen Schauspieler, der nicht als wissenschaftliches paper hundert Diskurse und Begriffsethymologien offenlegen/versprachlichen kann, sondern ETWAS SPIELEN muss.
“Was ist das, Tim?”, fragt die Regisseurin off screen nach einem Requisit, einem Kostüm, einem anderen nichtsprachlichen Ausdruck des Schauspielers im Bild. “Der Orient”, antwortet ein irritierter, durch die Frage verunsicherter, weißer Mann. Man hört förmlich das Kopfschütteln der Regisseurin. Der Ausdruck “deutscher Schauspieler” fällt. Ich habe Mitleid mit Tim, der ein Ich mit migrantischer Biografie spielen soll und zurecht “Ja, irgendwo muss ich’s mir ja herholen!” sagt. Der Diskurs wird nicht theoretisiert, sondern als Kompromiss beendet. “Wenn du’s dann hergeholt hast, können wir dann weitermachen?”
Das Ende ist ein Gefühl der Übelkeit: Tim Breyvogel bricht das Spielen vor der Kamera ab. Er hat “Heimweh”. Ihm wird “schlecht”. Er geht ab.

 

*Karl Kraus fügt in der Neuschöpfung „Protagonie“ die Wörter Protagonist und Agonie zusammen. Auf sich selbst bezogen meint er damit, dass er sich als Satiriker “in Protagonie gegen die Zeit befindet” (F 890-905, 6).

Foto: Chloe Potter.

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