Die Selbstbezichtigung. Volkstheater Wien im Volx/Margareten. Regie: Dusan David Parizek, Text: Peter Handke.
8. Februar 2016
Stefanie Reinsperger und Dusan David Parizek, ich liebe euch dafür, dass ihr meinen Handke wirklich ins Jahr 2016 geholt habt. Eure kritische und feministische Überarbeitung hat den Text aus dem historischen Kontext (70er, weiß/männlich) gelöst und heutig, weiblich wiederbelebt. Danke dafür! Danke!
Vorweg muss ich, glaub ich, sagen, dass ich mich die zweite Hälfte meines Studiums (also die wichtige) fast ausschließlich mit Peter Handke beschäftigt habe. Ich habe über „Wunschloses Unglück“ geschrieben und alles gesehen, was man sehen kann auf Film und im Theater. Ich habe eine Diplomarbeit über Väterfiguren in Handke-Texten begonnen und eine Diplomarbeit über Handke-Theater beendet. Möglicherweise bin ich etwas vorbelastet, wenn ich in den Fünften (Wiener Gemeindebezirk) fahre um die „Selbstbezichtigung“ zu sehen.
- Stefanie Reinsperger verteilt Apfel-Speigerl* (Das freut mich. Ich erkenne mich als Handke-Insiderin.)
- Stückbeginn: Sie liegt allein, nackt, so weit als möglich vom Publikum entfernt am Ende der Bühne, spricht ganz leise und man versteht jedes Wort. Wow!
- Das ist so schön, dass sie, die junge, selbstbewusste Frau, seinen (männlichen) Text spricht.
Das Negativ-Bild, die Folie gegen die ich Reinspergers Performance sehe, ist die berühmte Peymann-Inszenierung der „Publikumsbeschimpfung“ (Geschwistertext der „Selbstbezichtigung“) bei seiner Premiere in Frankfurt 1966. Naturgemäß mit weißen Männern:
- „Ich habe bezeichnet.“ Ach, der Text! Ich erinnere mich an die Euphorie, mit der ich damals Handke gelesen habe. Weil die Sätze so sitzen!
- Der Gewaltakt des Benennens:
Wie gewalttätig eigentlich das Mensch-Sein ist. Man kann gar nichts dagegen tun. Als Mensch. Nur darauf achten, so wenig gewalttätig als möglich zu sein.
- Kinderfotos schärfen sich im Hintergrund. Sie, nackt davor.
- „Ich habe gelernt, meine Körper unter meine Gewalt zu bringen.“
- Es ist so intim: die 1-Personen-Performance. Ich fühle mich mitverantwortlich für die Atmosphäre im Raum. Wenn Reinsperger so offen, schutzlos und frei spielt, muss ich als Publikum ihr Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Respekt geben. Das fällt einem gar nicht so auf, wenn da 5 oder 10 Schauspieler_innen auf der Bühne stehen.
- Sie verkompliziert die Sprache künstlich (lustvoll) und entkompliziert sie wieder. Spielerisch, singend eignet sie sich Worte, Sprache, ihren Körper und den Raum an. Man kann nur mit offenen Augen gebannt zusehen.
Das ist ja eigentlich das schöne am Theater: Dass man Schauspieler_innen so unverschämt ansehen darf.
- Sie konzentriert sich ganz auf sich; auf ihren Körper. Sie probiert sich aus.
- Die überdeutliche Artikulation jetzt entpersonalisiert den Text. Er wird überindividuell.
- Manchmal hat sie Angst vor dem, was sie da sagt. Dann ist sie wieder erstaunt darüber, was da an Text aus ihr herauskommt. Dann wiederum macht sie sich lustig.
- Jetzt formuliert sie Fragen so, als ob als Antwort immer eine Negation der Frage kommen müsste. Als ob die Frage lächerlich wäre. Das habe ich anders gelesen. Die Innenschau anhand dieser Fragen hätte ich spannender, berührender gefunden, als die Anklage der Gesellschaft.
- Eine Dame vor mir im Publikum geht mit Reinspergers Stress und Spaß so schön mit! ❤ Sie schüttelt den Kopf, wenn auf der Bühne schnelle, überforderte Anspannung gespielt wird und lacht laut, wenn etwas lustig ist.
- Wieso nimmt sie jetzt das Mikrophon?
- Hinten: Videoausschnitte aus Nora3. Reinsperger nimmt sich als Schauspielerin in das Stück auf!
Sie beschreibt mit Handkes Text Bilder aus ihrem eigenen, beruflichen Leben!
- Plötzlich spricht sie Wienerisch, wie sie in der „Lächerlichen Finsternis“ gesprochen hat. Sie eignet sich den Text erstklassig an. Das macht Spaß!
- Jetzt macht das Mikro Sinn! Es gibt ihr (auf der Bühne) Macht gegen sich selbst (im Film)! Cool gesetzt, Parizek!
- Sie distanziert sich satierisch von sich selbst, (Ich bin begeistert!) indem sie jetzt auf der Bühne in leichtfüßig veränderter Darbietung ihren eigenen Text aus vergangenen Stücken doppelt. ❤ ❤ ❤
- Jetzt wieder Handke-Text: kleine, unbedeutende Strafhandlungen zugeben ist schon sehr witzig. Das Publikum kichert.
Mir wird bewusst, wie diese Mini-Grenzübertretungen, die keinem wehtun, lustvoll Identität erzeugen.
- Jetzt zieht sie goldene Glitzer-Pumps an und thematisiert die Aneignung von Gegenständen als Form der stillen Äußerung. Dazu trägt sie ein braun-grünes Herren-Sakko. Bald lässt sie die Schuhe in der Mitte der Bühne stehen.
- Da steckt ein zweiter Text in Handkes Text drinnen. Einer, der Handkes analytische Position angreifbar macht. Danke! Das hätte sonst ein bisschen zäh werden können.
- Der zweite Text ist super und belebt Handke gut!
Frauensolidarität und die kulturelle Chance aus der Reformulierung des Anus als primäre Lustquelle (die Egalität dahinter), das ist bei Handke wahrscheinlich nicht so explizit formuliert. Ist das Jelinek?
- „Das ist alles nur ein Text, gell! Das hat nichts mit der Realität zu tun.“ stellt Reinsperger augenzwinkernd fest. Das Publikum schmunzelt. Ich auch.
- Der Text wiederholt sich. Er wird schneller, Reinsperger kürzt. Das ist sehr lustig, weil die Kürzungen den Satzsinn verändern. Erst nach einer Zeit der immer schnelleren Wiederholung bemerke ich, dass sie nur den eigenen Text kürzt. Handkes Text bleibt bestehen. Er bleibt übrig. ❤ Ach! Schön! Ich denke an den Vortrag von Peter Stein**: Ein wesentlicher Teil der Sprechtheater-Schauspieler_innen-Arbeit besteht darin, sich zum Text einen eigenen, privaten Subtext zu bauen und den Subtext wieder zu vergessen, sodass am Ende nur der Stücktext übrig bleibt, aber so gesprochen wird, als wäre es der private, eigene, spontan entstandene Subtext. ❤
- Jetzt spielt sie die melodramatische Wiener Dame. Es ist einfach herrlich. Ich halte die Vergänglichkeit des Moments fast nicht aus.
- DAS IST DAS WITZIGSTE IN MEINEM LEBEN!!!!
- Durch ihr damenhaftes Spiel, ihre Gestik, ihre Mimik, ihre Sprache, sehe ich sie – die sich noch immer mit lockerem Dutt ohne erkennbare Maske nur in einem weißen Hemd und braunem Herren-Sakko befindet – plötzlich in einem schillernden Abendkleid. Zauber Theater, du und ich.
- Ich kann eine zeitlang nichts notieren, weil ich vom Hinsehen so eingenommen bin.
- Die folgenden Sätze beschreiben „Spiel“ als Lust und ernste Gefahr. Bei jedem Satz muss man die Bedeutung neu entscheiden.
- Sie weint und der Raum ist so konzentriert, dass ich mich fast nicht traue zu atmen.
- Ich bin ganz nervös, angespannt und fertig, weil sie sich vor mir so verausgabt, so dem Text und dem Spielen hergibt. Wie anstrengend muss das sein. Wie kathartisch ist das Zusehen.
„Ich habe das Spiel unnütz genannt.“
- Handkes Texte: Man kann nicht alle Sätze hören. So ist es mir immer gegangen. Man kippt nach einer Zeit weg. Aber man kippt dann wieder hinein. Das ist das spannende: Wenn man aus dem Weggekippt-Sein wieder (durch einen Satz, eine Formulierung, ein Wort) hineinkippt, erlebt man den Text umso intensiver. Traumwahrnehmung.
- Ein Stückweit ist das Ende relativ zeitgenössische Hipster-Selbstkritik. Lesen Sie mal die letzten paar Absätze!
- Und schauen Sie sich das Stück an!
*oberösterreichisch für geschnittene Äpfel, also Apfel-Spalten (ekelhaftes Wort wegen – gottseidank – nicht häufig gebräuchlicher, despektierlich-sexueller Konnotation).
** Rezension bald hier.