Die Wiederbegegnung von Iphigenie und Orest, ihrem ebenfalls vom Schicksal erschütterten Bruder, ist für das Werk X von Lise Lendais und ihrem Ensemble als apokalyptische Fabel in ein konzentriertes Ton- und Bildgemälde phantasiert worden. Der Verstehensprozess wurde dabei bewusst verhindert. Das Ergebnis ist sperrig und schön.
„A Story of O. & I.“ von Lise Lendais und Bühnenspiel in Kooperation mit Werk X und fiveseasons/Frühlingsresidenz. Wien, 3. April 2016 [rezension]
weitere Termine: 5., 6., 11., 12. und 13. April 2016 – Beginn je 20 Uhr
Hinter einer großflächigen Gaze sitzen die vier Darsteller_innen und starren gebannt auf TV-Bildschirme, die einen Song-Ausschnitt des Disney-Filmes „Bambi“ zeigen. Was jetzt folgt, löst in mir die schuldbewusste Frage aus: Hätte ich mir vorher etwas durchlesen sollen?
Immer noch hinter der Gaze findet ein Schatten- und Geräuschgemälde statt. Eine Darsteller_in gibt die Dirigentin, das restliche Ensemble singt/spricht/schreit mit Kopfhörern auf ihren Ohren und in stehende Mikrophone. Ein Schlagzeug hämmert laut dazu. Ich würde gern der Stimme des Opernsängers folgen, werde aber von den restlichen auditiven Ebenen immer wieder abgelenkt.
Auf die Gaze werden einzelne Sätze projiziert. Ich check’s nicht. Ist es ein Fehler, dass ich etwas verstehen möchte? Mit leeren Händen stehe ich da und hätte gern ein Heft zum Stück in der Hand (sprichwörtlich). Es wird Französisch gesungen, dann gesprochen. Dazwischen Deutsch und Englisch. Meine Aufmerksamkeit sucht nach Anhaltepunkten, verliert sich immer wieder lustvoll.
Dann liest Hanna Binder aus einem Text, der Daten nennt, Uhrzeiten und Orte, die Krankenhäuser sind. Ob sie wirklich liest oder frei spricht, weiß ich nicht. Hinter der Gaze sehe ich nur ihren Schatten. Was wie Krankenhausberichte klingt erzeugt einen Moment lang eine dramatische Szene. Berührt sitze ich vorn über gebeugt und verliere die Distanz zum Bühnengeschehen. Das sind schöne Momente am Theater, in denen man vergisst, dass man nicht die Person auf der Bühne ist, sondern nur zusieht.
Ich bin ergriffen ohne genau zu verstehen, was eigentlich passiert ist – oder wem. Eine Emotion ohne Situation. Spannend.
Überraschend wird das Nicht-Verstehen im Text auf der Gaze thematisiert. Ich – das Publikum – werde direkt angesprochen. Das Ich des Textes erkennt die Anstrengung, die für mich das Zusehen und Zuhören der „Story of O. & I.“ bedeutet.
Wie kleine, kindliche Könige stacksen die Performer_innen in ihren goldenen Mänteln auf der Bühne herum. Hanna Binder kann man in sowas so gut reinstellen! Überraschend treten sie und Veronika Eberhart (Plaided) vor der Gaze hervor. Eberhart schrei-singt ‚Control‘ von Joy Division, Binder läuft die das Publikum teilende Treppe rauf und knallt gegen die Wand. Als detailliert ausgebauter Humanoid performt sie wenig später in der Mitte des Raumes so, dass es eine Freude ist, ihr dabei zuzusehen. Gern hätte ich in dieser Sequenz das Schlagzeug weggenommen und den Geräuschcomputer zurückgedreht. Damit wären die zwei Figuren, die ich als I. (Iphigenie) und O. (ihren Bruder Orest) identifiziere, als Schatten hinter der Gaze freigestellt worden. Das hätte mir eine bessere Konzentration auf einen von mir als zentral wahrgenommenen Moment ermöglicht.
„It’s about control. […] It’s not complicated.“ wird auf die Gaze projiziert.
Vielleicht hätte ich mir auch die Geschichte von Iphigenie durchlesen sollen. Vielleicht auch nicht. Doch ich denke, es hätte gereicht die Beschreibung im Programmprospekt zu lesen und nicht nur rasch zu überfliegen. Ich wusste also nicht ganz, was mich erwartet und war sehr überrascht. Folgen konnte ich der Performance natürlich nicht. Vieles erschloss sich im Nachhinein, da der Auslegungs- und Interpretationsspielraum sehr offen und weit gehalten ist. Gut so, ist auch in Ordnung. So findet jeder etwas, das gefällt und anspricht.
Allerdings sind mir in diesem Zusammenhang die doch stark meinungsvorgebenden Textblöcke auf der Gaze zu viel. Ist es jetzt ok, dass ich nicht verstehe weil der projizierte Text mich dabei ertappt hat? Kann ich es nicht auch einfach mal wirken lassen und dann entscheiden ob ich überhaupt verstehen möchte – muss ich verstehen? Oder kann ich nicht mehr verstehen weil das Nicht-Verstehen viel zu früh zum Teil des Programms geworden ist? Es ist natürlich schön zu verstehen. Mithilfe dieser Fragen verstehe ich schon besser.
Das Verstehen und das Nicht-Verstehen im Kontext der Bühnenproduktion, besonders im Bezug zwischen der im Schauspieler vereinten Dualität von Real und Fiktional, sind Kernpunkte des Stückes, die sich in einer Szene besonders darstellen: Alle Spieler sind auf der Bühne und artikulieren wiederholend ihre Gedanken zu der angestrebten Produktion. „Baby, Baby“, hallt es.
Das aktiv-wilde Herumtoben von Hanna Binder ist zu inszeniert und verkrampft für dieses collagenartige, sehr spontane Noise-Stück, das viel Stärke aus der sich langsam erschließenden Thematik und den zum Umbau und Umstellen genützten Pausen gewinnt. Ich mag das Schlagzeug, Hut ab für die Opernsänger. Stimm-, Gesangs und timbretechnisch war ich von allen Beteiligten begeistert.
Die Gaze fand ich szenografisch super: Lieblingsszenen mit den Fernsehern. Das viel zu frühe Hervortreten der Schauspieler ist schade.
Auch hier eigentlich ein bisschen Joy Division: In the shadowplay.
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Liebe Anna!
Vielen Dank für deine Gedanken. Ich finde spannend, dass du die Textblöcke auf der Gaze als meinungsvorgebend empfunden hast. Auf mich hat das eher wie ein Dialog mit dem Publikum gewirkt, von dem man sich erkannt finden kann oder nicht. Dass du das „Herumtoben“ von Hanna Binder „zu inszeniert“ empfunden hast, würde mich auch noch weiter interessieren. Meinst du die Stelle, an der sie vor der Gaze hervortritt, die an der sie wie ein Kind mit geballten Fäusten (so denke ich mir) hinter der Gaze im Kreis stapft oder eine ganz andere?
Vielen Dank nochmal! Ich weiß, dass das Zusammenfassen eigener Gedanken mit Arbeit verbunden ist und ich freue mich sehr, eine weitere Meinung zu diesem Stück zu haben!
Alles Liebe,
Clara
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