Russisches Leiden einer Schriftstellerin unter der stalinistischen Zensur und den eigenen psychischen Zuständen am Vorabend des Ersten Weltkrieges, übersetzt von einer 15-köpfigen Tanz/Musik/Schauspiel-Gruppe, die sich lange und gut kennt, in einen Abend organisch-beweglicher Körper-, Sprach- und Bühnenbilder. Ja, genau. So würde ich das zusammenfassen.
“… am Abend der Avantgarde” nach „Enuma Elisch“ von Anna Achmatowa in der Übertragung von Alexander Nitzberg. Eine Inszenierung des Serapion Ensembles unter der Leitung von Erwin Piplits und Mario Mattiazzo. Wien, 12. April 2016 [rezension]

Weitere Termine: 12.–16., 19.–22., 26.–28. April; 3.–7. Mai – je 20 Uhr.

Odeon Theater Wien, Produktion 'Am Abend der Avantgarde', 2016

Text

Enûma Eliš lautet der titelgebende Beginn eines Textes, der zur Mitte des 19. Jahrhunderts in der irakischen Stadt Mosul auf gravierten Tontafeln aus der (wahrscheinlich) Bronzezeit gefunden wurde. Der Text erzählt vom Beginn der Welt (ähnlich der Genesis), von der Gründung Babylons und wurde der Vermutung nach zur Feier des Babylonischen Neujahrs verwendet. Als die russische Dichterin Anna Achmatowa (1889-1966) sich 1942 in der Evakuierung in Taschkent befindet und an Typhus erkrankt, liegt sie monatelang im Delirium in einem Krankenhaus und durchlebt Visionen. Nach ihrer Gesundung beginnt die Dichterin – vor der Revolution eine der zentralen Figuren des Akmeismus – ihre Erfahrungen in ein Theaterstück zu verdichten, das den Titel „Enuma Elisch“ trägt.

Zur gleichen Zeit beginnt sie auch mit dem Versepos „Poem ohne Held“, aus dem das Serapions Ensemble Textteile entnommen hat und damit den Abend als Pro- und Epilog rahmt. Achmatowas Biographie, ihr literarisches Schaffen und ihr künstlerisches und politisches Umfeld sind der Kenntnis wert und ich empfehle jede_r/m sich zumindest den Wikipedia-Eintrag zu Gemüte zu führen. Dankenswerterweise hat sich das Odeon-Theater die Mühe gemacht, ein sehr ausführliches Programmheft zu gestalten, das gut lesbar ist und einen detailreichen Überblick zu Anna Achmatowa schafft.

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Der Raum

Die Premiere des „Abends der Avantgarde“ fand an einem Apriltag mit überraschendem Starkregen statt. Aus dem achten Wiener Gemeindebezirk kommend, ist das Gefühl über den Donaukanal in den Zweiten zu fahren schon jedes Mal mit dem des Betretens einer anderen Welt vergleichbar. Voller Vorfreude auf die Vorstellung – als Literaturwissenschaftlerin, Feministin und Pathos-Fan von der Idee, einen lyrischen Text einer russischen Frau, die ich noch nicht kenne, schon seit Wochen begeistert – nehme ich die Treppen nach oben in den zweiten Stock und finde mich in den heiligen Hallen des Odeon-Theaters wieder.

Der Mensch, der sich auf den langen, gepolsterten Sitzbänken, die zur Tribüne angeordnet im mehr als 10 Meter hohen, von zwölf massiven Steinsäulen umgrenzten Raum unwohl fühlt, muss wohl noch erfunden werden. Im 19. Jahrhundert als Börse für landwirtschaftliche Produkte gebaut, fasst der Raum heute um die 300 Zuschauer_innen und ist ohne Zweifel eine der schönsten Bühnen Wiens.

 

Odeon Theater Wien, Produktion 'Am Abend der Avantgarde', 2016

Inszenierung

Die Umsetzung des Textes in diesem weiten, hohen Raum war erstaunlich und damit meine ich, dass ich aus dem Staunen nicht mehr heraus kam. Im Programmheft schreibt man, das Serapions Ensemble habe aufgrund mangelnder Produktionsmittel keine neuen Requisiten, Bühnen- und Kostümelemente angeschafft, sondern nur aus anderen Arbeiten Zurückbehaltenes verwendet. Vielleicht bilde ich mir ein, dass man das spürt. In meiner Vorstellung haben die Mitglieder des Ensembles zu jedem physischen Bauteil ihrer Inszenierung eine liebevolle Beziehung. Organisch wechseln Bühnenbilder, geht der Ballsaal in das Büro in den Garten in das Zugabteil über.

Solche Szenenwechsel erinnern mich stark an überragende Inszenierungen der Wiener Festwochen.

Meinem Sprechschauspieler_innen-verliebten Herz gegenüber muss ich eingestehen, dass die Tänzer_innen des Ensembles an diesem Abend keine überzeugenden Schauspieler_innen sind. Während die Tanztheaterelemente einen Zauber in sich haben, der meinen Blick zu dem eines begeisterten Kindes macht, bleibt die mimische Darstellung der gesprochenen Texte dahinter zurück.

Wie eine Szene aus der Westside-Story wirkt es dann, wenn die namenlose weibliche Hauptfigur in lockerem, rosafarbenen Kleid auf einem Gerüst steht und einen Dialog mit einer namenlosen männlichen Nebenfigur unten am Bühnenboden spricht. Der Textvortrag ist für mich die einzige Schwäche des Abends. Der Text ist verwirrend bzw poetisch verdichtet. Es gibt keine klaren Figuren, keine klare Handlung. Als ich im Nachhinein recherchiere und lese, dass Achmatowa einer Gruppe Schriftsteller_innen angehörte, die sich bewusst gegen den okkulten Symbolismus stellten und eine realitätsnahe Sprache verwendeten, werde ich stutzig. Das Gegenteil scheint mir der Textvortrag im Odeon erreicht zu haben.

An einer Stelle während der zweiten Hälfte kippte meine Begeisterung, obwohl das Staunen über den Tanz, die Bühne und das Kostüm nicht weniger wird.

Plötzlich war mir der Pathos zuviel. Ich verstand vom Text nichts, der Aussprache der kubanischen Tänzerin wegen. Die theatrale Szene im Zugabteil irritierte mich. Im Programmheft stand, es handle sich um einen Zug Gefangener in ein sibirisches Lager. Auf der Bühne sah ich einen zweite Klasse Waggon mit einer dritte Klasse Holzbank, Zeitungsleser_innen und ganz normale Fahrgäste. In keinem Anflug war mir das Gefangensein oder das Lagerziel erkenntlich. Als dann Mercedes oder Miriam Iríbar (die beiden sind Zwillige) eine betrunkene Tänzerin gab und in Ballettmanier die Beine in die Luft warf, verstand ich überhaupt nichts mehr. Fahren wir jetzt ins Arbeitslager oder haben wir Spaß? Vielleicht will die Inszenierung aber genau um die Erzeugung dieser Unsicherheit. Wenn das so ist, habe ich nicht verstanden, warum.

„…Am Abend der Avantgarde“ war trotz der kleinen Länge im zweiten Teil ein sehr besonderer Abend. Wie das Serapions Ensemble den wunderschönen Raum des Odeon bespielt ist ein Kunstwerk für sich. Herzlich bedanken möchte ich mich für die Vorstellung der Schriftstellerin Anna Achmatowa. Sie war mir vorher nicht bekannt und jetzt schätze ich unsere Bekanntschaft sehr.

TIPP: 15. und 22. April (je 18 Uhr) gibt der Übersetzer Alexander Nitzberg eine Werkeinführung


Szenenbilder: ©Odeon / H. Jahn
Portrait Anna Achmatowa: by Kuzma Petrov-Vodkin (1922). The painting is located in the State Russian Museum in St. Petersburg, Russia. Kein Copyright: Gemeinfrei.

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