Zehn Jahre vor Roth’s weltbewegendem Signature-Roman „Die Kapuzinergruft“ erscheint „Die Flucht ohne Ende„. Beide Texte erzählen von einem männlichen österreichischen Staatsbürger auf der Suche nach sich selbst. Felix Hafner setzt seinen Franz Tunda erst mal in eine Kiste – zum Wohl des Protagonisten.
Als der aus Kriegsgefangenschaft geflohene Franz Tunda nach einer Zeit im sowjetischen Exil zurück in seiner Heimatstadt Wien findet, erzählt Hafner’s Inszenierung ihren Kern in einem Bild: Ein junger Mann steht an der Bar eines Tschocherls, in Gesellschaft des Wirten und zwei Mit-Tschecherant_innen. Vier verlorene Seelen an einem zeitweiligen Heimatort rezitieren „Wien, du bist a oide Frau“ von Qualtinger/Heller und verweisen damit auf den ganzen Schmerz der österreichischen Seele: Den Verlust von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Bild der Heimat „Wien“, nicht allein durch Qualtinger/Heller fast im vierfachen Schriftsinn symbolisch besetzt.
„Die Flucht ohne Ende“ beschreibt als Reiseroman in quasi-journalistischem Stil den Weg des jungen Oberleutnants Franz Tunda quer durch Europa. Dabei fällt die Ähnlichkeit zu Reisebewegungen und -begegnungen des späteren Roth-Protagonisten Franz Trotta (Kapuzinergruft) auf. Trotta als Tundas dichter besetzter Nachfahre schimmert in den reflexiven Bemerkungen des Erzählers immer wieder durch:
„Jetzt war Franz Tunda ein junger Mann ohne Namen, ohne Bedeutung, ohne Rang, ohne Titel, ohne Geld und ohne Beruf, heimatlos und rechtlos.“
Regisseur Felix Hafner und Dramaturgin Julia Engelmayer gelingt es, Anklänge an die aktuelle europäische Frage zu finden ohne die Ähnlichkeiten zwischen 1918 und 2018 deutlich auszustellen. So wird der Heinzi aus Qualitinger/Hellers „Wien, du bist a oide Frau“ am Landestheater St. Pölten zwar augenzwinkernd zum „Basti“, doch bleibt die männliche Leerstelle suchendes Zentrum des deutlich historischen Abends.
Tunda lässt sich von imaginierten Frauenbildern durch das Europa im Umbruch führen. Erst verfolgt er das Bild seiner Wiener Verlobten, dann verliebt er sich in die revolutionäre Bolschwikin Nathascha. Von ihr wendet er sich der gehörlosen Kinoliebhaberin Alina zu, die er wiederum nach einer Affäre mit einer verheirateten, französischen Urlauberin verlässt. Als er auf einem Umweg seinen Bruder und dessen Ehefrau Clara (Tundra’s heimliche Flamme von früher) besucht, findet er diesen in einer zentraleuropäischen gesellschaftlichen Blase wieder, die sich über Attrappen einer als einheitlich interpretierten, europäischen Kultur versichert.
Fein stellt Hafner hier zwei gewesene Bürger des habsburgischen Reiches einander gegenüber. Tunda, voller Fragen dem bürgerlichen Ideal heteronormativer Liebe verpflichtet – und Georg, voller Antwort zuhause in einer identitären Blase deutsch-bürgerlicher Kultur.
„Die Flucht ohne Ende“ hätte voller mitleidserregender Momente sein können, die das große Wort im Titel als Tränendrüse sozialer Verantwortung missbrauchen. Das Verantwortungsvolle (und Schöne) an dieser Inszenierung ist, dass sie genau dies nicht tut. Keine Tränendrüse, kein Mitleid. Anstelle dessen fällt der Protagonist aus einem Kasten und zeigt, wofür sich Hafner entschieden hat: Das Ausstellen einer Form weißer, zentraleuropäischer, gebildeter, bürgerlicher Männlichkeit, die in der neuen Welt nichts mehr mit sich anzufangen weiß.