Spanien. Saragossa in Spanien. 778 nach Christus. Karl der Große kämpft gegen die muslimische Bevölkerung. Den Text des Pfaffen Konrad über den tapferen Neffen Karl’s, Roland, vertont der ägyptische Musiker und Performer Wael Shawky. Die Festwochen zeigen diesen musikalisch beeindruckenden Abend im Theater an der Wien.


Ich bin selten im Theater an der Wien und verwechsle gleich Parkett Reihe 1 mit Parterre Reihe 1. Manchmal ist es schon kompliziert, im klassischen Theater seinen Platz zu finden.  Als ich sitze, unterhalten sich drei Damen hinter mir. Sehr sympatisch finde ich, dass sie sich offensichtlich seit 10 Jahren jährlich zu den Wiener Festwochen treffen. It’s their thing!

Neben mir nehmen junge, amerikanische Tourist_innen Platz. Sie wissen anscheinend nicht, was sie erwartet, aber wollten sich was „in these amazing buildings in Vienna“ anschauen.

Vor mir auf der Bühne sitzen zwanzig Fidjeri-Sänger im Schneidersitz. Hinter ihnen eine „arabische“ Stadt. Da geht er schon los, mein Westlicher Blick, denk ich. Und sie beginnen zu singen.

Song of Roland(1)_©Janto Djassi

 

Mit „Kaiser Karl der Große“ beginnt das Rolandslied, das aus dem Altfranzösischen am Beginn des 11. Jahrhunderts in Früh-Mittelhochdeutsche übersetzt wurde. Es erzählt vom großen Kaiser der deutsch-europäischen Kulturgeschichte. Gemeinsam mit seinem Neffen Roland zieht er los – aus Aachen nach Saragossa in Spanien, wo er das Christentum gegen den Islam zu verteidigen müssen denkt.

Die Fidjeri-Sänger singen Arabisch, unkommentiert wie Kulturgeschichte generell eben vorgetragen wird. Deutsche Übertitel prangen zurückhaltend über der raumfüllenden Landschaft des frühmittelalterlichen Spaniens. Klatschen, geschlagene Tonkrüge (wie heißt das? Kann mir jemand eine Einführung in Fidjeri geben?) , Trommeln, rhytmische Gesänge, dazwischen kurze Tänze – Wael Shawkys Konzept macht Spaß.

Meine Gefühlslage während der einstündigen Performance in dramaturgischer Reihenfolge:

  1. positive Überraschung: Das ist eine coole Idee!
  2. erfreut: Ich muss lachen, weil ich die Musik so mag und so noch nie gehört habe.
  3. irritiert: Plötzlich denke ich, ich muss den Rhythmus verstehen. Welche musikalischen Elemente kommen vor? In welcher Regelmäßigkeit hängen Klatschen, Tanzen und Singen zusammen?
  4. glücklich, still: Ich beginne die Gedanken „über“ abzulegen und denke „mit“.
  5. energetisiert: Meine Schultern, mein Nacken, meine Füße, Beine, Rücken – alles bewegt sich zum Rhythmus.
  6. ruhig, zufrieden: Ein Seelenraum entsteht. Ich fühle mich frei, glücklich. Ich sehe den Spaß der Performer auf der Bühne.

„In der Stadt war kein Moslem zu finden, der nicht getötet wurde, oder zum Christentum konvertiert war.“

In diesen beeindruckend schönen, rhythmischen Seelenraum hinein singen die Zwanzig diese Texte. Sie predigen dieses 1000 Jahren alte Stück Kulturgeschichte herunter, wie man Kulturgeschichte langläufig eben so runter predigt – ohne Diskussion, ohne Kontext, ohne Widerspruch. Geschichte ist Geschichte, meint man oft. Die Dinge sind so, wie sie sind.

Dass Geschichte immer aus dem Mund eines/r Erzählers/in kommt, nur eine Perspektive aus vielen möglichen – und vielen richtigen, erzählenswerten, erinnerungswerten Erfahrungspunkten, erzählt Wael Shawky mit seinem Ensemble sensibel, ruhig, ohne Fingerzeig und mit unglaublicher ästhetischer Kraft.

Screen Shot 2018-05-15 at 23.06.38zum ARD-Beitrag über Wael Shawky

Konzept, Regie, Design – Wael Shawky
Künstlerische Assistenz – Hashem Alalawi
Assistenz Bühne – Giorgio Benotto
Technische Leitung, Licht – Sergio Pessanha
Künstlerische Produktionsleitung – Stefan Scheuermann, Henning Mues
Tontechnik – Kay Engert

Mit – Juma Yousif Jumaja Almukaini Aljneibi, Fahed Omar Abdulla Heba Marzouq, Mohamed Ali Khamis Alashar Almarshada, Anwar Ali Jasim Ahmed, Khaled Ali Mohamed Aljaffal, Yusuf Khamis Sbait Mubarak Alfarsi, Ali Husain Ahmed Husain Altamimi, Saad Ahmed Mohamed Aljaffal, Khaled Saad Salem Rashed, Ahmed Saleh Mohamed Alshabaan, Ahmed Abdulla Juma Farhan, Idrees Rabeea Idreses Bakheet, Ismaeel Mohamed Mesfer Saad, Faraj Mohamed Mesfer Saad, Yaqoob Ali Mohamed Bujaffal, Isa Ali Mohamed Aljaffal, Abdulla Jawher Meftah, Mohamed Anwar Ali Ahmed, Jasim Matar Almarzooqi, Aman Khamis Almarashda

Fotos: ©Janto Djassi.

Neue Wiener Festwochen ist ein Audience Experience & Engagement Format von Neues Wiener Theater – dem Wiener Publikumsverein.
Allen Theaterinteressierten offen steht die Facebook-Gruppe „Neue Wiener Theater Salon“, in der Eindrücke Wiener Theatervorstellungen geteilt und die damit zusammenhängenden Erfahrungen der Wiener Theaterwelt besprochen werden. Regelmäßig finden gemeinsame Theaterbesuche und Theater-Stammtische statt. Mitglieder des Vereins steht es offen, ihre Eindrücke auch auf dem Vereins-Blog zu veröffentlichen. Wenn du Mitglied werden möchtest, schreib uns einfach unter hello@neuewiener.at!

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